Spezial: Wundversorgung beim Diabetischen Fuß
Patienten mit diabetischem Fußsyndrom sind eine besondere Herausforderung, nicht nur, aber besonders wegen der komplexen Wunden. Um hier eine schnellere Heilung zu erreichen, kann die Unterdrucktherapie angewendet werden. Ein Blick über den Tellerrand hin zu den Diabetologen:
Am 2. Oktober 1993 verabschiedete die Arbeitsgemeinschaft Diabetischer Fuß in der Deutschen Diabetes-Gesellschaft ihre Oppenheimer Erklärung mit Empfehlungen zur Amputationsvermeidung. „Wenn
die Behandlungsschritte strukturiert durchgeführt werden, wenn wir ein großes Augenmerk auf Prävention und Patientenschulung legen, dann wäre es möglich, eine beachtliche Amputationsratensenkung
hinzubekommen“, daran erinnerte die Wundmanagerin Anita Mysor auf einer Veranstaltung von Lohmann & Rauscher, Neuwied, Ende Januar in Wien. Auch für 2016 nannte sie die Schulung und das
Eingehen auf den Patienten noch an erster Stelle unter den Maßnahmen zur Minderung der Amputationsrate. Wundmanagement bedeute nicht in erster Linie „Was machen wir drauf?“, sondern „Warum ist
die Wunde da?“, betonte sie. Als besonders wichtig hob Mysor die effektive Prävention und Patientenschulung hervor. Ein weiterer Punkt auf ihrer Liste, der so ähnlich auch schon 1993 gefordert
wurde, ist der Aufbau differenzierter, vernetzter Strukturen im Gesundheitswesen, nicht zuletzt, um das interdisziplinäre Vorgehen bei eingetretener Verletzung leisten zu können, welches Mysor im
Rahmen eines strukturierten Behandlungskonzepts natürlich auch für angeraten hält. Mit diesen Maßnahmen sei eine Reduktion der Amputationsraten um 43 bis 85 Prozent möglich, zitierte sie WHO und
die Internationale Diabetes-Föderation IDF.
Mysor ist akademische Wundmanagerin und als freie Mitarbeiterin tätig im Krankenhaus Maria Hilf Krefeld und Tönisvorst sowie in der Praxis von Dr. med. Susanne Kanya in Krefeld und in der
Fußsprechstunde der diabetologischen Schwerpunktpraxis Dr. med. Kristina Pralle in Berlin. Diese Liste zeigt, dass es die geforderten Strukturen durchaus gibt. Mysor berichtete aus ihrer
praktischen Erfahrung aber auch von Schwachstellen. Drei bis vier Monate warten Patienten zur Neuaufnahme bei ihnen in der Praxis inzwischen auf einen Termin, „das ist die Kehrseite des Erfolgs“,
gestand sie. Aber auch ohne solche Kapazitätsprobleme sei die sofortige Behandlung beim Fuß-Experten nicht immer gegeben, „bis die Patienten bei uns im Zentrum sind, sind sie manchmal schon zwei,
drei, vier Monate vom Hausarzt und irgendeinem Pflegedienst therapiert worden“, schilderte sie, „leider Gottes ist die Diagnostik, die wichtig ist, bevor man darüber nachdenkt, was man
lokaltherapeutisch macht, gar nicht passiert.“
Bewusstsein für Fußdramatik schwindet
Sieht man die Wunde und den Schuh, erkennt man oft das Problem, erklärte Mysor zur Genese von diabetischen Fußulcera. Manchmal zeichne sie zur Veranschaulichung die Umrisse des Fußes eines
Patienten nach und setzt den getragenen Schuh darauf, sodass der Betroffene sieht, dass der Fuß überall ein Zentimeter über den Schuh hinausgeht. „Aber das müsste ich doch merken“, zitierte sie
eine weitverbreitete, ungläubige Reaktion, und das denken Angehörige und vielleicht auch manche Ärzte auch. Doch das tun Patienten nicht, 80 Prozent aller Patienten mit diabetischem Fußsyndrom
haben laut Mysor eine distal-symmetrische Polyneuropathie, 30 Prozent von ihnen in Kombination mit einer pAVK. Die Nervenschäden sieht man, erinnerte sie, trockene Haut, Fußdeformationen,
Schwielen oder ein Hohlfuß seien äußerlich erkennbare Hinweise.
Für die über die reine Gefühllosigkeit hinausgehende, komplexe Körperempfindungsstörung bei Patienten mit diabetischer Polyneuropathie verwies Mysor auf die in den 90er-Jahren vom Dortmunder
Diabetologen Dr. med. Alexander Risse aufgestellte Hypothese des „Leibesinselschwunds“. In Umkehrung des Phänomens der Phantomglied-Erlebnisse, also eines Leibs ohne Körper, handele es sich
hierbei um einen Körper ohne Leib, also ohne Verbindung zum Ich – quasi eine Körpermaschine. „Patienten mit diabetischem Fußsyndrom sind anders“, beschrieb Mysor ihre Beobachtung, es gebe eine
Diskrepanz zwischen Befund und Erleben, viele ihrer Patienten zeigten sich subjektiv beschwerdefrei. Folgerichtig fehlt ihnen dann oft auch das Verständnis für den „therapeutischen Wirbel“, der
um die Fußwunde gemacht wird, als uneinsichtig und unbelehrbar erlebt Mysor die Patienten – und eigentlich immer als fröhlich, selbst vor einer Amputation. „Das muss einem als Therapeut klar
sein“, machte sie deutlich, „sonst möchte man die Patienten schütteln, jeden Tag“, beschrieb sie anschaulich. Für die alltägliche Praxis brauche der Wundmanager daher neben der Zeit für Anamnese
und Behandlung die „Soft Skills“ Geduld, starke Nerven und die Fähigkeit zur permanenten Reflexion der eigenen Haltung und der aktuellen Situation. Auch für die lokale Therapie der Wunden habe
der Leibesinselschwund potenziell Folgen. Patienten mit einer Neuropathie erkennen oft nicht, wenn Gefahr im Verzug ist, also wenn zum Beispiel der Verband verrutscht ist oder eine Infektion
schmerzen würde. Durch das Gefühl, die Gliedmaße gehöre nicht zu ihnen, könne es zur Vernachlässigung der Pflege kommen, bis zum tatsächlichen Nichtkümmern sei es ein unbewusster Prozess, ein
Verhalten, das nicht nur für den Therapeuten, sondern auch für den Patienten oft kaum nachzuvollziehen sei. Konsequenz sei laut der Wundmanagerin, dass der Verband neben allen anderen Aufgaben,
die er im Rahmen der feuchten Wundversorgung zu erfüllen hat, auch den Patienten vor sich selbst schützen muss, also dass zum Beispiel die Druckentlastung nach Rücksprache mit dem Patienten am
Fuß festgeklebt wird.
Viele lokale Ansätze
Die moderne, feuchte Wundversorgung umfasst das Debridement avitaler Gewebeanteile, die vollständige Druckentlastung der Wunde, die Infektionsbehandlung sowie die stadiengerechte lokale
Wundbehandlung und erforderlichenfalls die Revaskularisierung.
In der Lokaltherapie stehen sehr viele unterschiedliche Ansätze zur Verfügung, mit denen die Granulation und Epithelisierung der Wunde unterstützt werden sollen. Als Beispiele nannte Mysor
Alginate, Hydrofaser und Polyurethan. Einheitliche Strategien der Auswahl unter den Unmengen von Möglichkeiten gibt es laut der Wundexpertin keine, „was bei 100 Patienten gut geht, kann beim
nächsten völlig in die Hose gehen“, beschrieb sie, die Studienlage grenze die Produktauswahl auch nicht wesentlich ein. Alle Produkte sollten in der Regel mehrere Tage auf der Wunde verbleiben,
um die Verbandswechselintervalle zu verlängern und die Granulation weniger zu irritieren. Alginate müssten immer auf die Wundgröße zugeschnitten und gezupft werden, was im ambulanten Bereich eine
Herausforderung darstellen kann, wenn es dem Pflegedienst an sterilen Hilfsmitteln wie Pinzetten oder Scheren fehlt, wie Mysor zu berichten wusste. Außerdem wies sie darauf hin, dass Alginate
unter Druck „knubbeln“ können und so Druck auf die Wunde ausüben, den der Patient mit Neuropathie nicht bemerkt. Hydrofiberprodukte dagegen können unter Druck vollständig vergelen und so
„weggetreten“ werden. „Nichts ist so einfach wie es scheint“ war denn auch die Überschrift der Wundmanagerin für diese Liste an zu beachtenden Punkten bei der lokalen Wundtherapie.
Druckentlasung und Blutzucker müssen stimmen
Doch egal mit welcher Wundauflage man arbeite, unter Druckbelastung heile kein Ulcus im Rahmen eines diabetischen Fußsyndroms ab, erinnerte Mysor, wie im Übrigen auch die gute
Blutzuckereinstellung ist der Druckschutz eine conditio sine qua non der Wundheilung. Einen solchen Druckschutz könne man als schnelle Übergangslösung zum Beispiel mithilfe eines Randpolsters
selbst zurechtschneiden, Materialien seien in verschiedener Dicke erhältlich, sodass man mit kleinen Balken oder Ringen im Bereich der Zehen oder auch einer kompletten Sohle zum Beispiel beim
Malum perforans eine kurzfristige Entlastung erreichen könne, bevor ein Entlastungsschuh zur Verfügung steht. Was es neben etwas Fantasie beim „Basteln“ brauche, seien Kenntnisse zur Fußanatomie
und zu Fehlstellungen: Beachten müsse man, dass das Material bei zu viel Belastung irgendwann nachgibt, zudem könne es verrutschen. Vom Kölner Fußexperten Dr. med. Dirk Hochlenert gebe es
mittlerweile auch einen Kurs für dieses Filzen und Zurechtschneiden zur Druckentlastung, berichtete Mysor.
Jährlich werden in Deutschland rund 250.000 diabetische Fußläsionen behandelt, diese Zahl nannte Dr. med. Claudia Ellert auf der Veranstaltung in Wien. Jeder vierte Diabetiker werde in seiner
Krankheitsgeschichte von einer Fußläsion getroffen, so die Oberärztin der Gefäßchirurgie der Lahn-Dill-Kliniken in Wetzlar. Über 60.000 Amputationen pro Jahr seien in Deutschland auf das
diabetische Fußsyndrom zurückzuführen, darunter 20.000 Majoramputationen, was 70 Prozent aller Majoramputationen insgesamt entspreche. Neben den schon von Mysor genannten unmittelbaren Zielen der
Therapie nannte sie Schmerzbeseitigung, Wiederherstellung der Gehfähigkeit und damit den Erhalt von Mobilität, Selbstständigkeit und Lebensqualität. Die Wundbehandlung sei dabei oft schwierig, da
sehr komplexe Wundverhältnisse vorliegen, eine Spaltfußsituation, zirkuläre Unterschenkelulcera, Fußsohlendefekte und offene Amputationen nannte Ellert als Beispiele. „In der Behandlung dieser
komplexen diabetischen Fußwunden hat sich die Unterdrucktherapie in den letzten Jahren als Goldstandard durchgesetzt“, erklärte die Expertin, bei ihr wird ein Schaumverband aus Polyurethan oder
Polyvinyl verwendet, über dessen Poren sich unter der Saugwirkung eine gleichmäßige Druckverteilung über die gesamte Wundoberfläche einstellt. Der Unterdruck wird dabei mittels einer
mikroprozessor-gesteuerten Therapieeinheit unter einer transparenten, semiokklusiven Folie erzeugt. Der Schaum verliert unter dem Unterdruck Volumen, die Zellen dehnen sich, was für die Zellen in
der Umgebung der Wunde ein Proliferations- und Granulationsreiz sei. Es kommt zur Wundkontraktion, anfallende Wundflüssigkeit wird über ein Pad mit integrierter Drainage in einen Auffangbehälter
abgeleitet. Als Mechanismen, über die die lokale Unterdrucktherapie wirkt, nannte Ellert die Anregung der Bildung von Granulationsgewebe, die Annäherung der Wundränder durch den Sog, Steigerung
der lokalen Durchblutung (um den Faktor vier bei einem Sog von 125 mmHg), Ödemreduktion, Anregung der Zellproliferation, Reduktion von Wachstumsinhibitoren und Keimreduktion durch die
Folien-Abdeckung.
Schwerpunkt Unterdruck
Auch das Neuwieder Unternehmen sieht in der Unterdrucktherapie eine der wichtigsten Innovationen im Bereich der Wundversorgung in den letzten Jahren. Für das Unternehmen war sie der Einstieg in
das Gebiet der aktiven Medizinprodukte und der intensiven direkten Kooperation mit Anwendern, speziell auch Chirurgen, berichtete Dr. Christian Rohrer, Leiter der Division Forschung und
Entwicklung des Unternehmens.
Die Unterdrucktherapie sei in der Forschungsabteilung das größte Einzelthema, am Unternehmens-Standort in Schönau an der Triesting südlich von Wien sei über die letzten Jahre eine
hochqualifizierte, interdisziplinäre Mannschaft und die erforderliche Infrastruktur aufgebaut worden. Man habe vom österreichischen Staat hier auch Unterstützung durch eine hochkarätige
„Headquarter-Förderung“ bekommen, berichtete Rohrer.
Seit knapp zwei Jahren hat Lohmann & Rauscher einen Suprasorb® CNP Easydress genannte Sekundärverband für die Unterdrucktherapie an Extremitäten im Angebot, CNP steht dabei für Controlled
Negative Pressure. Die Folie ist wasserdampfdurchlässig und dreidimensional designt. Der hautschonende Verband wird über die betroffene Extremität gezogen und mittels Z-Faltung und Fixierstreifen
befestigt. Statt eines Schwammes kommt als Kontaktschicht eine antimikrobielle Gaze zum Einsatz, die Kombination mit Schaumverbänden sei möglich, erläuterte Ellert in Wien. Der Unterdruckverband
sei deutlich schneller fertiggestellt als bei konventionellen Abklebemethoden.
Die Zeitersparnis liegt nach Daten des Unternehmens bei bis zu 90 Prozent. „Mit der antimikrobiellen Gaze als Kontaktschicht zur Wunde lassen sich auch große Wundflächen bedecken. Dann wird der
Folienschlauch als Sekundärverband einfach über die Extremität gezogen und mit schmalen Fixierstreifen fern von der Wunde auf der intakten Haut befestigt.
Dadurch wird die empfindliche Wundumgebung geschont. Zusätzlich verbessert die hohe Wasserdampfdurchlässigkeit der Spezialfolie des Easydress das Feuchtigkeitsmanagement unter dem Verband“,
erläuterte Ellert. ms