Verhinderung von Arzneimittelinnovationen durch RCT-Maßstab
Der 19. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik Ende April 2016 nahm die
evidenzbasierte Medizin in die Zange. Fazit: EbM ist unverzichtbare Grundlage einer sicheren Patientenversorgung. Allerdings sollte es eine größere Methodenvielfalt und individuelle
Beurteilungskriterien zur Gewinnung von nicht nur systematischer, sondern individueller Evidenz geben.
Nicht immer ist es reines Gold, was glänzt. Auf die sprichwörtliche Formel kann die überwiegende Einschätzung der Beteiligten am Gesundheitssystem gebracht werden, wenn es um randomisierte
kontrollierte Studien (RCT) in der medizinischen Evidenzgenerierung geht. RCT ist Goldstandard in der Arzneimittelzulassung. Dahinter steht die Annahme, dass sie bester Garant für eine optimale
Gesundheitsversorgung gemäß den gesetzlichen Vorgaben sind. Ob das die Realität widerspiegelt, diskutierten Experten mit einem engagierten Auditorium beim 19. Eppendorfer Dialog zur
Gesundheitspolitik am 20. April 2016 in Hamburg. Es ging um die Nutzendefinition im Rahmen der Evidenzbeurteilung, um Innovationshemmung durch RCT-Level, um die Forderung nach
Methodenvielfalt. Chairman Prof. Achim Jockwig, Hochschule Fresenius, schaffte es, die öffentliche Debatte durch routinierte Diskussionsleitung zu einem für alle spannenden und konstruktiven
Dialog zu machen.
Bereits zum 19. Mal begleitete der von G. Pohl-Boskamp unterstützte öffentliche „Eppendorfer Dialog zu Gesundheitspolitik“ ein für alle Beteiligten am Gesundheitswesen brisantes Thema. Die
Frage lautete „Evidenzgenerierung in der Medizin – nur über klinische Studien?“ Als Referenten eingefunden hatten sich Vertreter aus der Lehre, der Politik, dem Gemeinsamen Bundesausschuss, der
pharmazeutischen Industrie und der großen Patientenorganisation ACHSE.
Im individuellen Fall liefert die statistische Aussage keine exakte Diagnose
Frau Prof. Dr. habil. Lilia Waehlert, Studiendekanin Master Führung und Management im Gesundheits- und Sozialwesen, Programme Director für den M. Sc. International Pharmacoeconomics & Health
Economics, Hochschule Fresenius, führte das Auditorium in die Kausalzusammenhänge von evidenzbasierter Medizin (EbM) und RCT ein. EbM gründet auf dem sicheren Wissen um den bestmöglichen
Therapienutzen. RCT gelten in vielen Ländern als Garant dafür, da sie kausale Beziehungen zwischen Therapie und Effekt darstellen.
Studienpopulation entspricht oft nicht der realen Versorgungspopulation
„Allerdings“, so Waehlert, „entspricht die Studienpopulation nicht der realen Versorgungspopulation derer, die das Arzneimittel erhalten werden. Ein Hauptproblem, so Waehlert, ist eine
Nutzendefinition, die nicht zwischen Patientennutzen und ökonomischem Nutzen unterscheidet.
„Wir wissen, dass RCT nicht alle Rahmenbedingungen erfüllen“, räumte Thomas Müller, Arzt und Apotheker, Leiter der Abteilung Arzneimittel des G-BA, ein. Ganz problematisch findet Müller den
Rückschluss: „Wenn keine RCT vorliegt, gibt es keinen Nutzen, also wird auch das Arzneimittel nicht gebraucht.“
Patientennutzen findet oft keine Berücksichtigung
Er räumt ein, dass es sich bei einer von Systematik und Wahrscheinlichkeit getriebenen Evidenzgenerierung nicht unbedingt um die Wahrheit handelt, sieht aber wenig andere Möglichkeiten, die
gesetzlichen Vorgaben für Leistungen aus der GKV zu erfüllen: „Der Bundesausschuss entscheidet exakt normativ. Das Mittel muss profitieren.“
Wie aber definieren sich bestmögliche Evidenz und damit therapeutischer Nutzen? Fragen, die Dr. Jens Peters, Leiter des Geschäftsfeldes Klinische Forschung beim BPI, als den Knackpunkt im System
beschreibt.
Unzählige Methoden zur Bewertung von Qualität und Empfehlungsstärke führen nicht zur Klärung, und zumeist findet der individuelle Patientennutzen keine Berücksichtigung. „Selbst beste Form von
Evidenz liefert nicht für jede Art von medizinischen Fragen die besten Antworten“, so Peters. EbM sollte die Kompetenzen, Präferenzen und Wertvorstellungen von Handelnden UND Betroffenen
umfassen.
Patientennutzen braucht Methodenvielfalt
„Es gibt eine Welt außerhalb von RCT, und wir müssen aufpassen, dass wir Innovationen nicht dadurch verhindern, dass wir sagen: Moment, da muss erstmal ein bestimmter Evidenzlevel angelegt
werden“, mahnt Dr. phil. nat. Andreas L. G. Reimann, geschäftsführender Gesellschafter der admedicum GmbH – Die Patientenagentur, ehrenamtlicher Vorsitzender der Allianz Chronischer Seltener
Erkrankungen, ACHSE. Er fordert Institutionen und Beschlussgremien auf, Evidenz vom Patienten her zu denken. Viel zu oft werde Outcome mit Impact gleichgesetzt. Reimann spricht sich für
Methodenvielfalt aus, damit der individuelle Patientennutzen in die Evidenzbetrachtung einfließen kann.
IQWIG darf nicht der „Nerd“ in einem innovationsfeindlichen System sein
„In einem solidarisch finanzierten System müssen wir immer rechtfertigen, wann und warum welche Leistung erbracht wird“, rechtfertigte sich Michael Hennrich, MdB, Obmann der CDU/CSU im Ausschuss
für Gesundheit. Dafür hält er RCT für unumgänglich. Allerdings könne man es sich nicht leisten, dass das IQWIG als Nerd in einem innovationsfeindlichen System neue Arzneimittel vorzugsweise
herausdränge. Daher muss die Politik im Dialog mit den Beteiligten das Thema Evidenzgenerierung in allen Facetten neu betrachten. Fazit der Expertendebatte: EbM ist unverzichtbare Grundlage einer
sicheren Patientenversorgung. Allerdings sollte es eine größere Methodenvielfalt und individuelle Beurteilungskriterien zur Gewinnung von nicht nur systematischer, sondern individueller Evidenz
geben. EbM darf sich nicht über Studiendesigns definieren, die Innovationen verhindern und nutzenstiftenden Therapien den Versorgungszugang versperren. Im Sinne des Patientennutzens müssen Daten
aus Real-life-Untersuchungen für eine Nutzenbewertung ebenso herangezogen werden wie die Potenziale aus Big-Data-Analysen.