Nachdenkliches aus der Praxis
In der Oktober-Ausgabe von DERMAforum setzt sich der Hamburger Dermatologe Dr. med. Claus Dreessen mit einer Problematik auseinander, die auch ihm selbst so ganz fremd nicht ist – mit der Prokrastination.
Pro- was? Pro-blem? Pro-phylaxe? Pro-krastination? (lat. pro = für , cras = morgen). „Morgen, morgen, nur nicht heute …“ Sie, liebe Leserinnen und Leser, kennen diesen Spruch. Oder den vom Arzt, der selbst sein schlechtester Patient ist. Oder den vom Schuster in unserer Überschrift. Ehrlich bitte, wann haben Sie – die männlichen Kollegen seien hier an erster Stelle angesprochen und befragt – wann also haben Sie als fachkundige Dermatologen zum letzten Mal einen Nävuscheck, eine Hautkrebs-Vorsorge oder gar die männliche Krebsvorsorgeuntersuchung an sich selbst vornehmen lassen? Hm?
Lästiger Schorf auf der Kopfhautmitte
Ich komme im heutigen Artikel darauf, weil vor wenigen Tagen ein freundlicher älterer Herr in meiner Sprechstunde erschienen ist. Ein munterer Endsiebziger-Ruheständler, dessen gut drei mal drei
Zentimeter Schwarzes Melanom auf der unbehaarten Kopfhautmitte bereits beim Platznehmen jedem Arzt quasi ins Auge gefallen wäre oder hätte auffallen müssen. Jeder Dermatologin und jedem
Dermatologen sowieso.
Befragt, was ihn denn zu mir führe, sagte er, er habe so einen lästigen Schorf auf der Kopfhautmitte, und der sei auch irgendwie dunkler geworden. Irgendwie dunkler? Pechschwarz, ausgefranste
Ränder, teilweise unregelmäßig nodulär erhaben. Auf Nachfrage erzählte er, das habe vor etwa sechs bis sieben Jahren begonnen und sei gewachsen; seine Frau habe ihn seitdem wiederholt
(vergeblich) aufgefordert oder gebeten, das doch mal untersuchen zu lassen. Na ja, und nun sei er eben da, der Herr Kollege im Ruhestand: Arzt für Allgemeinmedizin!
Und die eigene Prokrastination?
Doch zurück zum fast Unaussprechlichen, der Prokrastination: Gemeint ist damit das Vertagen, das Aufschiebe-Verhalten, der Handlungsaufschub als unangenehm empfundener Arbeiten oder Tätigkeiten.
Viele von uns dürften das aus Alltag und Freizeit kennen: unerledigte Kassenanfragen, Steuererklärung, Rasenmähen, TÜV u.v.m. Diese unangenehmen Gefühle, die uns von einer oder einer bestimmten
Aufgabe (aufgeben??) abhalten, entstehen u.a. aus Ablehnung durch Angst, Antriebsarmut, Gleichgültigkeit, schlechter Organisation, Perfektionismus, unklarer Prioritätensetzung, unzureichendem
Selbstmanagement, mangelnder Sorgfalt, Unlust (z.B. Bummelstudententum). Nun ließ mir, bezogen auf uns Ärzte und speziell uns Dermatologen, die wir doch allüberall, landauf, landein, landab nicht
müde werden, die Notwendigkeit der Hautkrebs-Vorsorge zu betonen und gebetsmühlenartig vor uns hertragen, die Frage nach unserer eigenen Prokrastination keine Ruhe. So hängte ich mich ans
Telefon, rief befreundete und wohlgesonnene Hautkollegen an, darunter auch den Abteilungsdirektor einer Hautklinik, und war doch bass erstaunt über die ehrlichen Antworten. Kaum einer hatte
jemals (!) einen anderen Fach-Kollegen sein Integument inspizieren lassen; einer gab zu, aufgrund familiärer Darmpolyposis vor sechs Jahren eine Koloskopie hinter sich gebracht zu haben, einer
berichtete von der ‚großen Hafenrundfahrt‘ (digitale Prostatauntersuchung – allerdings ohne Prokto-oder Rektoskopie) vor fünf Jahren.
Häufung von einge- oder überwiesenen Arztkollegen
Interessant die Information des Hautklinikchefs, der von einer überzufälligen Häufung von einge- oder überwiesenen Arztkollegen berichtete, die ihm mit Basalzell-, Plattenepithel- und
Stachelzellkarzinomen (und diese nicht in frühen Anfangsstadien) sowie mit Malignen Melanomen vorgestellt wurden. Selbst Dermatologinnen und Dermatologen waren darunter. Sicherlich waren Letztere
nicht die Mehrzahl, aber die „Tatsache, dass ...“ fand ich doch bedenklich, wenn nicht erschreckend. Wie oft Ärzte selbst ihre eigenen Familienangehörigen nur unzureichend bis lässig untersuchen
und behandeln, ist mehr als eine Fama.
Nun mögen Sie zu Recht fragen, wie es denn der Autor selbst damit zu halten pflegt? Er pflegte lange Zeit gar nichts. Er hat – allerdings zugegebener Weise nach mehr als 15 Jahren – vor drei
Monaten sich einem Fachkollegen unter dessen erfahrene Augen und dessen Auflichtdermatoskopie begeben. Und vor wenigen Tagen erst – nach drei Jahren – wieder einmal die ‚Hafenrundfahrt‘ und
dazugehörige, als sinnvoll erachtete Ultraschalluntersuchungen im „Unterwärtsbereich“ hinter sich gebracht.
Und Sie? Haben Sie auch mal sich selbst im Blick und nicht vergessen? Ich hoffe nicht. Dreessendoc